Die Provenienz der Literatur – Gemeinsame Seminareinheit mit der FU Berlin
Die Debatte um Provenienz- und Restitutionsforschung hat in den Museen derzeit Konjunktur – allerdings ist das Feld weitaus größer und mancherorts wird bereits von einem „provenancial turn“ gesprochen. Während Disziplinen wie Kunstgeschichte, Ethnologie, Archäologie oder Buchwissenschaft Methoden der Provenienzforschung entwickelt haben, sind Provenienzfragen in der Literaturwissenschaft noch vergleichsweise neu. An der Freien Universität Berlin hat Andreas Schmid deshalb das Seminar „Die Provenienz der Literatur“ entwickelt.
2023 recherchierte das Projekt IN_CONTEXT: Colonial Histories and Digital Collections Bestände aus kolonialen Kontexten in den verschiedenen Abteilungen der Staatsbibliothek zu Berlin und identifizierte unter anderem eine Reihe von Nachlässen von Beamten, Militärangehörigen, Forschenden oder allgemein von Personen, die in die europäischen Kolonien reisten oder dort lebten. Die Stabi Berlin verwahrt unter anderem den Nachlass von August Klingenheben (1886-1967), einem Sprachwissenschaftler, der einen seiner Forschungsschwerpunkte auf die Vai-Sprache legte und zu diesem Zweck nach Liberia reiste. In seinem Nachlass finden sich neben allgemeinen Forschungsdokumenten auch Sammlungen von Sprichwörtern und Erzählungen der Vai, die in dieser Form nie veröffentlicht wurden.
Der Klingenheben Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin, Foto: L. Müller
In einer gemeinsamen Seminareinheit diskutierten wir den Umgang mit diesen Nachlassmaterialien. In einem ersten Teil beschäftigten wir uns mit den Erwerbs- und Sammlungskontexten von Klingenheben: Inwieweit kann hier von einem kolonialen Kontext gesprochen werden? Mit welchem Interesse sammelte Klingenheben? Wie war sein Verhältnis zu Informanten? In einem zweiten Teil konzentrierten wir uns auf die Erzählung „The Leopard’s Daughter“ und verglichen verschiedene später veröffentlichte Fassungen (1961, 1988, 2008). Welche Aspekte wurden unverändert übernommen? Was wurde jeweils verändert? Handelt es sich immer noch um „dieselbe“ Geschichte? Abschließend wurde die Frage diskutiert, wie heute mit dem Nachlass von Klingenheben umgegangen werden soll. In der Diskussion wurden vor allem die folgenden Themen angesprochen: Ist eine Digitalisierung ethisch geboten? Müssen weitere Daten zur Person Klingenheben, zu den Informanten oder zum Sammlungskontext hinzugefügt werden? Sollen Personen in Liberia konsultiert werden, um einen angemessenen Umgang mit den Vai-Erzählungen zu finden?
Seminar: Die Provenienz der Literatur. Die Überlieferung von August Klingenheben, FU Berlin/Stabi Berlin, 11.01.2024, Andreas Schmid, Lars Müller.
Weiterführende Literatur
Irene Albers, Andreas Schmid: Literatur als koloniale Beute? Für eine philologische Provenienzforschung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaft 97 (2023), 1003–1018. https://doi.org/10.1007/s41245-023-00222-9.
Fatima Massaquoi: The Leopard‘s Daughter. A Folk Tale from Liberia translated from the VAI Language, Illustrations by Martha Burnham Humphrey, Boston 1961.
Ernst Dammann: August Klingenheben (1886–1967), in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 117 (1967) 2, 211–214.
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