IN_CONTEXT Kollaboration mit Dean College (USA) angelaufen

Im Rahmen der Initiative „Exploring History and Digital Methods“ des Stabi-Projekts IN_CONTEXT und des Dean College in Franklin, Massachusetts (USA) hielt John Woitkowitz am 13. und 15. November 2023 zwei virtuelle Gastseminare. Mit Studierenden des Seminars HIS 425 Digital History und Professor David B. Dennis diskutierte Dr. John Woitkowitz über die Rolle digitalisierter Bestände sowie über Fragen zur Erstellung und Kuratierung von Metadaten und deren Auswirkung auf die Forschungspraxis in den Geschichtswissenschaften. Wie historische Kataloge moderne Sammlungen prägen, was bei der digitalen Bereitstellung von Quellen kritisch zu reflektieren ist und wie internationale Empfehlungen einen verantwortungsvolleren Umgang mit Metadaten ermöglichen sollen, stand dabei besonders im Fokus des ersten Seminars.

Students at Dean College during XML/TEI seminar

Studierende des Dean College während des XML/TEI Seminars (Foto: David B. Dennis)

Das Praxis-Seminar am 15. November stand im Zeichen der Kodierung historischer Quellen zur Kolonialgeschichte mit Hilfe der XML/TEI-P5 Richtlinien. Das Seminar brachte viele Studierende erstmals in Kontakt mit den Möglichkeiten digitaler Geschichtswissenschaft. Studierende wählten eigenständig Quellen, beispielsweise, zur Geschichte des britischen Imperialismus oder indigener Gruppen in Alaska aus der Children’s Encyclopedia (1908-1913) der Kinder- und Jugendbuchabteilung in den Digitalisierten Sammlungen der Stabi aus. Mit Hilfe eines grundlegenden TEI-Vokabulars kodieren und zeichnen sie nun ihre Quellen aus. Zusätzlich zur XML/TEI-Auszeichnung der Quellen erstellen die Studierenden eine Bibliografie zu aktueller Forschungsliteratur mit Bezug zu ihren Quellendokumenten sowie eine „Editorial Note“, in welcher sie die Dokumente historisch einordnen. Besonders Themen zu ethischen Fragen wie Autorenschaft, die Vergabe von historischen Ortsnamen oder die Klassifikation von Quellen trafen im Rahmen des Praxis-Seminars auf großes Interesse.

Nach einer Prüfung durch Professor Dennis und Dr. John Woitkowitz werden die Editorial Notes, die Bibliografien und die XML/TEI-Auszeichnungen der Studierenden nun im „Citizen History Sourcebook“ des New England Journal of History veröffentlicht und als Forschungsdaten zur Nachnutzung zur Verfügung gestellt. Eine Präsentation der Beiträge in Form einer virtuellen Ausstellung ist geplant. Darüber hinaus freuen wir uns Professor Dennis im nächsten Jahr an der Stabi für einen Besuch begrüßen zu dürfen, wo er über Forschung und Lehre in den digitalen Geisteswissenschaften in den USA berichten wird.

Auch im Namen von Professor Dennis sei an dieser Stelle Dr. Nicole Eichenberger ganz herzlich für ihre Unterstützung in der Konzeption des XML/TEI-Workshops gedankt.

Mehr Informationen zur Initiative „Exploring History and Digital Methods“ finden Sie hier.

Workshop „Koloniale Kontexte in Bibliotheken“

Ein Konferenzbericht von Christine Kühn

Am 6./7. November 2023 diskutierten rund 60 Bibliotheksmitarbeitende und Forscher:innen aus mehr als 16 Einrichtungen an der Staatsbibliothek zu Berlin über koloniale Kontexte in Bibliotheken. Erstmals wurden in einem umfangreichen Programm unterschiedlichste Fragestellungen und Lösungsansätze zusammengetragen. Als bibliotheksspezifische Handlungsfelder wurden neben der Provenienzforschung zu Sammlungen, die Dekolonisierung von Bibliotheken und deren Umgang mit Metadaten, die Frage der Aneignung immateriellen Kulturerbes, ethische und rechtliche Fragen bei sensiblen Inhalten und schließlich Digitalisierung und Zugang zu Informationen für Communities of Interest identifiziert. Bei diesem ersten zentralen Treffen kamen auch Vertreter:innen aus Kamerun, Kenia, Liberia, Namibia und Sri Lanka über Videobotschaften zu Wort. Organisiert wurde die Veranstaltung von der dbv-Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung und dem Projekt IN_CONTEXT in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK).

Die Tagung wurde mit Grußworten von Hermann Parzinger (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Larissa Förster (DZK), Michaela Scheibe und Larissa Schmid (Staatsbibliothek zu Berlin) im Theodor-Fontane-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin eröffnet. In den ersten beiden Panels lag der Fokus der Beiträge auf Erwerbungskontexten und Objektgeschichten. Dabei ging es nicht nur um Objekte aus Unrechtskontexten, sondern genauso um die Fragen, wann die Provenienz eines Objekts letztendlich geklärt ist, ob bei Erwerbungsreisen in bestimmten Zusammenhängen trotz Kaufverträgen doch Fragen von kolonialen Machtverhältnissen eine Rolle spielen. Im Anschluss an den Vortrag von Ralf Kramer von der Bayrischen Staatsbibliothek wurde kritisch diskutiert, was letztendlich das Ziel von Forschung zu kolonialen Provenienzen sein kann, um andere Lösungen für Objekte als Dauerleihgaben an die Communities of Interest oder anstelle einer „digitalen Restitution“ (Übergabe von Datenträgern mit Digitalisaten) zu finden.

Hermann Parzinger im Gespräch mit Generaldirektor Achim Bonte, Larissa Schmid und Michaela Scheibe (Bild: Hagen Immel)

Am Nachmittag des ersten Workshoptages ging es mit Panels zu ethischen und rassismuskritischen Perspektiven weiter. Dabei warf Julia Zenker von der UB der Humboldt-Universität und vom FID Sozial- und Kulturanthropologie z. B. die Frage auf, ob bestimmte Inhalte und Objekte digitalisiert werden dürfen und wer diese Entscheidung letzten Endes fällt. Zum einen kann Unklarheit darüber bestehen, ob die Abbildungen und Texte kulturell oder religiös sensibel sind, zum anderen ist es nicht gegeben, dass die Bereitstellung des Digitalisats im Internet einen Zugang für Communities of Interest bietet – es kann nicht davon ausgegangen werden, dass an allen Orten die notwendige Infrastruktur zum Abrufen der Inhalte breitflächig verfügbar sind. Simon Cubelic vom Centre for Asian and Transcultural Studies der Universität Heidelberg wies in seinem Vortrag daraufhin, dass es außerdem wichtig ist, die richtigen Ansprechpartner:innen für mögliche Rückgaben bzw. Restitutionen in den jeweiligen Communities of Interest zu finden: die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen statt staatlichen Akteuer:innen kann sinnvoll sein. Des Weiteren fragte Anne Peiter von der Universität von La Réunion in ihrem Beitrag, wie Bilder aus kolonialen Kontexten gezeigt werden können, ohne dass der koloniale Blick dabei reproduziert wird. Das Panel zu rassismuskritischen Perspektiven weitete den Blick vom direkten Umgang mit den Objekten auf die breitere bibliothekarische Praxis. Moritz Strickert von der UB der Humboldt-Universität und dem FID Sozial- und Kulturanthropologie stellte die Vokabulararbeit der AG Thesauri des Netzwerks Koloniale Kontexte, bei der verschiedene existierende Thesauri in Beziehung gesetzt werden, vor und Birgit Kramreither und Birgit Athumani Hango von der Universitätsbibliothek Wien und Maike Mewes und Jantje Bruns von der Bibliothek des Museums am Rothenbaum, einer One-Person-Library, berichteten über Dekolonialisierungsprozesse z. B. in Bezug auf den Bestand und dessen Kontextualisierung gegenüber Nutzer:innen, in Form eines Statements, QR-Codes mit zusätzlichen Informationen und rassismuskritischen Führungen.

Am Dienstag begann der Workshoptag mit einem Panel zu kolonialen Sammlungspraktiken: Wie koloniale Wissensstrukturen in kartographischen und bibliothekarischen Sammlungen des Perthes Verlages verhaftet sind und den heutigen Zugang zu Archivalien und Literatur bestimmen, stand im Zentrum des Beitrages von Petra Weigel von der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt. Der darauf folgende Vortrag gab Einblicke in die kolonialen Belastungen der christlichen Missionsliteratur und die Darstellungen von Communities of Interest im Kontrast zu den christlichen Missionar:innen bei mikado, der Bibliothek und Dokumentationsstelle des Internationalen Katholischen Missionswerk missio e. V. Danach verlagerte sich die Diskussion im Vortrag von Irene Albers und Andreas Schmid von der Freien Universität Berlin zu Sammlungspraktiken auf die philologische Ebene: Inwieweit werden Erzählungen aus kolonisierten Ländern anonymisiert und in Anthologien wiederaufbereitet, bevor sie in Märchensammlungen für ein deutsches Publikum kommerziell verwertet werden? Natürlich waren ebenfalls die Bestände der Stabi Berlin Thema, und zwar im Vortrag zur Ernst Dammann-Sammlung der Orientabteilung von Meliné Pehlivanian.

Im Panel „Digitalisierung“ diskutierte Elke Brehm, wie ethnographisches Filmmaterial, was ursprünglich zu Forschungszwecken aufgenommen wurde, unter Berücksichtigung von ethischen und nicht nur juristischen Fragestellungen außerhalb von Forschungszwecken genutzt werden kann. Maria Hermes-Wladarsch stellte das Projekt Digitale Sammlung Deutscher Kolonialismus vor. Wie sich die Bestandsauswahl abhängig von der Definition von Kolonialismus gestalten kann und wie auf diese Weise bibliothekarische Sammlungspraxis immer Ausdruck der aktuellen Situation ist, wurde im Anschluss diskutiert.

Im Panel zu Metadaten und Präsentation wurde die Neutralität von Metadaten diskutiert – schließlich werden sie immer von denen produziert, die sie anlegen. Außerdem gewährte Christoph Rauch von der Staatsbibliothek zu Berlin Einblick in aktuelle Entwicklungen im Portal Qalamos zu Provenienzforschung, wir erfuhren welche Rolle FAIR- und CARE-Prinzipien und die Entwicklung von Personas für das Portal Collections from Colonial Contexts der DDB spielten und überlegten, warum der „Dresdner“ Maya-Codex eigentlich Dresden zugeordnet wird und wie sich die Zugänglichkeit für lateinamerikanische Communities gestaltet, wenn der Codex nur auf einer Webseite in deutscher und englischer Sprache präsentiert wird.

Unterbrochen wurden die Vorträge und lebhaften Diskussionen durch Impulse und Interventionen durch Aufnahmen von Mutanu Kyany’a aus Kenia, Debey Sayndee aus Liberia, Naazima Kamardeen aus Sri Lanka, Albert Gouffo aus Kamerun und Werner Hillebrecht aus Namibia – Kolleg:innen aus Communites of Interest. Mutanu Kyany’a betonte, dass Zusammenarbeit notwendig ist, nicht nur, um Communities of Interest Zugang zu ihren Kulturgütern sowie zu Informationen über ihre Kulturen zu geben, sondern um wirkliche Transformationen anzustoßen. Naazima Kamardeen äußerte Unverständnis gegenüber der Willkür von Restitutionsentscheidungen der aufbewahrenden Gesellschaften und der damit verbundenen Ungleichheit zwischen Akteur:innen und kritisierte den Begriff des „Globalen Südens“, dessen Inhalt besser durch „globale Mehrheit“ getroffen wird. Albert Gouffo drückte den Wunsch nach gemeinsamen Bibliographien oder Sammlungen gemeinsamen Wissens zwischen Kamerun und Deutschland aus.

Albert Gouffo spricht per Videobotschaft zu den Teilnehmenden (Bild: Christine Kühn)

Eine der ursprünglichen Motivationen des Workshops, nämlich das gemeinsame Nachdenken über einen Leitfaden für Bibliotheken und ihren Umgang mit kolonialen Kontexten, inspiriert vom Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Museumsbunds, den Museen bereits nutzen, wurde in Form von Pinnwänden mit Fragen an die Teilnehmenden aufgegriffen. So gab es in den Pausen immer wieder Raum für Diskussion, Austausch und Beteiligung. Im letzten Zeitslot des Workshops wurden die Antworten und Kommentare präsentiert und zur Diskussion gestellt.

Michaela Scheibe und Regine Dehnel stellen die Ergebnisse des Pinnwand-Brainstormings vor (Bild: Christine Kühn)

Das detaillierte Programm mit den Titeln der einzelnen Vorträge und den Namen und Institutionen der Teilnehmenden ist hier einsehbar.

Zum weiteren Austausch wurde zur Teilnahme an den Treffen des Netzwerks Koloniale Kontexte und des Netzwerks Decolonize The Library eingeladen.

Wir hoffen, dass der Workshop als Initialzündung für notwendige weitere Schritte wie kooperativ zu erarbeitende Leitlinien wirken wird. Im nächsten Schritt hoffen wir, den Dialog zwischen Bibliotheken und anderen Kulturerbe-Einrichtungen, Bibliothekspraktikern und Wissenschaftler:innen sowie Bibliotheken und Communities of Interest fortzusetzen. Als nächste Vorhaben sind ein o-bib-Themenheft 2024 und eine internationale Konferenz geplant.

 

 

 

 

CfP: Workshop zu Umgang mit kolonialen Beständen in Bibliotheken

Die koloniale Vergangenheit wird zunehmend öffentlich diskutiert. Kulturerbe-Einrichtungen tragen eine besondere Verantwortung und vor allem Museen haben bereits damit begonnen, ihre kolonialen Verstrickungen kritisch zu reflektieren und Nachwirkungen bis heute zu untersuchen. Provenienzforschung und Restitutionsdebatten haben hierzu beigetragen. Bibliotheken spielen in der aktuellen Debatte derzeit kaum eine Rolle, obwohl mit der in den meisten offiziellen Dokumenten verwendeten Bezeichnung „Museen und Sammlungen“ auch Sammlungen historischer Bestände in Bibliotheken inkludiert sind. Die dbv-Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung und das Projekt IN_CONTEXT der Staatsbibliothek zu Berlin nehmen dies zum Anlass, um in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste den Umgang mit Beständen aus kolonialen Kontexten in Bibliotheken in den Blick zu nehmen.

Ziel des Workshops ist es, zu diesem Themenfeld Akteure aus Bibliotheken, Interessenverbänden und der Forschung zusammen zu bringen, bereits als einschlägig bekannte Sammlungen vorzustellen und Vorarbeiten für einen Leitfaden zum Umgang mit kolonialen Beständen in Bibliotheken zu leisten. Dabei soll sowohl grundsätzlich über den Umgang mit kolonialen Kontexten in Bibliotheken diskutiert werden als auch konkrete Bestände und Fragestellungen in den Blick genommen werden. Es werden zwei Schwerpunkte gesetzt:

Erstens wird nach Beständen in Bibliotheken gefragt, die aus kolonialen Unrechtskontexten stammen. Inwieweit sind beispielsweise Objekte im Kontext der Plünderung von Magdala (1868) oder des sog. Boxer-Krieges nach Europa gekommen? Inwieweit betreiben Bibliotheken bereits Provenienzforschung und existieren ggf. Rückgabeforderungen? Wie können Provenienzdaten in Metadaten integriert werden?

Zweitens wird nach Beständen mit Bezug zum Kolonialismus gefragt: Wie gehen Bibliotheken mit sog. Rezeptionsliteratur, wie Reiseberichten oder kolonialnostalgischer Literatur um? Inwieweit betrifft das Thema Sondermaterialien, wie Karten, Nachlässe oder Fotobestände? Wie sollte mit wissenschaftlicher Literatur aus der Kolonialzeit umgegangen werden? Wie können diese Bestände angemessen in digitalen Sammlungen und Repositorien eingepflegt und präsentiert werden?

Einsendeschluss für Beiträge ist der 15. Juni 2023. Die Workshop-Sprache ist deutsch.

Einen ausführlichen Call for Papers finden Sie hier.

Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an: in_context@sbb.spk-berlin.de

Digitalisierung im Zeichen der CARE-Grundsätze

Die Digitalisierung von historischen Quellen in Kulturerbeeinrichtungen fällt in eine Zeit, in der Bibliotheken und Museen zunehmend über ihre koloniale Vergangenheit reflektieren. Die Überschneidung dieser Bereiche wirft wichtige Fragen zu den historischen und ethischen Dimensionen der Digitalisierung von historischen Quellen auf. Während internationale Gremien Richtlinien zur Umsetzung von Prinzipien und Standards für die Digitalisierung entwickeln, wird dieses Thema innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften aufgegriffen und Praktiken in der Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten kritisch diskutiert.

Die Ordnung von Wissen in europäischen Kulturerbeeinrichtungen hat eine lange Geschichte. Moderne Systeme und Methoden zur Organisation von Sammlungen und Objekten existierten bereits lange vor dem Beginn von Digitalisierungsprojekten. So begannen im 18. und 19. Jahrhundert Museen, wissenschaftliche Gesellschaften und entstehende akademische Disziplinen damit, Wissen und Objekte aus der außereuropäischen Welt durch neue Taxonomien und Klassifikationen zu ordnen. Auf diese Weise trugen sie dazu bei, Unbekanntes oder was als Fremd deklariert wurde zu Objekten wissenschaftlicher Forschung zu definieren, wobei Regionen und Menschengruppen oft exotisiert und rassifiziert wurden, um koloniale Regime der Ausbeutung und Unterdrückung zu rechtfertigen.

Die digitale Neuordnung unserer Zeit ähnelt vielleicht nicht in jeder Hinsicht ihrem Pendant aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt jedoch historische Anklänge, die eine kritische Reflexion erfordern. Die Digitalisierung historischer Sammlungen schafft neue Formen von Daten und damit auch neue Wege, Daten zu beschreiben. In diesem Zusammenhang haben die Research Data Alliance und die Global Indigenous Data Alliance die FAIR– (2016) und CARE-Prinzipien (2019) veröffentlicht, um einen Zugang zu und ethisch verantwortungsvollen Umgang mit Daten zu gewährleisten. (Während FAIR-Daten auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar sein müssen, umfassen CARE-Daten kollektiven Nutzen, Kontrollbefugnis, Verantwortung und Ethik als Kriterien). Das Projekt IN_CONTEXT: Colonial Histories and Digital Collections, das sich zum Ziel gesetzt hat, historisches Material zu digitalisieren und ein Konzept für eine virtuelle Forschungsumgebung zu entwickeln, sieht sich immer wieder mit grundlegenden Fragen konfrontiert, wenn es darum geht, physische Quellen in digitale Formate umzuwandeln: Wie gehen wir mit historischen Klassifikationsschemata und der Übernahme aktueller Bezeichnungen um? Wie verhandeln wir das Spannungsfeld zwischen den Anforderungen von Förderorganisationen, institutionellen Standards und internationalen Richtlinien, die entwickelt wurden, um die FAIR und CARE-Prinzipien umzusetzen? In welcher Form kann exotisierendes und rassistisches Quellenmaterial zugänglich gemacht werden? Sind redaktionelle Eingriffe in der Präsentationsschicht ausreichend? Wie können solche Praktiken auf die Gestaltung von Schnittstellen, also programmatischen Zugängen zu Daten, ausgeweitet werden? Und wer sollte bei diesen Entscheidungen mit am Tisch sitzen?

Diese Fragen waren Gegenstand einer Podiumsdiskussion zum Thema „Digitalisierung kulturellen Erbes und postkoloniale Perspektiven“ auf der 9. Jahrestagung des Verbands für die Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) an der Universität Trier. John Woitkowitz von IN_CONTEXT und Clemens Neudecker, Co-Leiter des Projekts Mensch.Maschine.Kultur, diskutierten gemeinsam mit Kolleg:innen die ethischen Dimensionen von Digitalisierungsprojekten und die Verpflichtung von Institutionen, ihre Rolle in der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. In einer breiten Debatte wies das Panel auf die Chancen der Digitalisierung von Sammlungen und der Anwendung von Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz auf digitalisierte Quellen hin. Der globale Zugang zu historischen Quellen, die sich auf die Kolonialgeschichte beziehen, ist für die Forschung wertvoll, aber insbesondere für jene Gemeinschaften, wo Quellen entwendet wurden und welche weiterhin mit dem Erbe kolonialer Gewalt und Ausbeutung konfrontiert sind. Ebenso können K.I.-gestützte Tools helfen einseitige Darstellungen und sensible Inhalten zu erkennen und damit neue Möglichkeiten für Forschungsmethoden und der Verwaltung von Daten schaffen.

Gleichzeitig existieren erhebliche Herausforderungen in der Umsetzung der CARE-Grundsätze im Umgang mit Quellen aus kolonialen Kontexten. Die Co-Kuratierung von Daten und die gemeinsame Entwicklung von Informationsinfrastrukturen, wie z. B. webbasierte Repositorien und Forschungsumgebungen, sind von entscheidender Bedeutung, um einseitige Darstellungen zu minimieren und die Deutungshoheit innerhalb von Herkunftsgesellschaften zu stärken. Eine solche Arbeit kann jedoch nicht kurzfristig sein. Der Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen, erfordert langfristige Verpflichtungen, ein Schlüsselaspekt, der oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Finanzierungsfristen und die Ungewissheit über die Nachhaltigkeit der Projektarbeit erschwert wird. Ebenso sind Förderbedingungen, die einen offenen Zugang zu digitalisiertem Material erfordern, nicht immer mit der von Herkunftsgesellschaften vorgesehenen Nutzung vereinbar. Unterschiedliche Ausprägungen digitaler Infrastrukturen erschweren zudem den ortsunabhängigen Zugang zu digitalisiertem Material, ein Aspekt der in die Entwicklung von Plattformen und Digitalisierungsprozessen einbezogen werden muss.

Zugänglichkeit und kollektiver Nutzen, zwei wichtige FAIR- und CARE-Grundsätze, berühren auch Aspekte von Sprache. Die DHd-AG Multilingual beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Mehrsprachigkeit, um Aufmerksamkeit zu schaffen und als eine Plattform für kritische Perspektiven in diesem Bereich zu agieren. Damit Nutzende aus verschiedensten Sprachgemeinschaften Bestände und Ressourcen, die durch Digitalisierungsprojekte zur Verfügung gestellt werden, lesen und nutzen können, muss Mehrsprachigkeit als Standard in den Kulturerbeeinrichtungen ausgebaut werden. Darüber hinaus muss Mehrsprachigkeit in die Entwicklungsprozesse der Datenmodellierung, die Entwicklung von Benutzeroberflächen und das Schnittstellen-Design einbezogen werden, wenn digitale Quellensammlungen bestehende Sprachgrenzen überwinden soll.

In vielerlei Hinsicht bedeutet Digitalisierung in einer globalen Informationsgemeinschaft, dass Wissen und Sammlungen wieder mit ihrer Geschichte und ihrem Erbe zusammengeführt werden. Dieser digitale Moment ist jedoch nicht ohne Widersprüche. Die Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten kann nicht ohne die Mitarbeit derjenigen erfolgen, die von dieser Geschichte betroffen sind. Stattdessen muss sie von Kollaboration in der Kuratierung und Entwicklung getragen und mit den entsprechenden Ressourcen für eine nachhaltige Zusammenarbeit ausgestattet sein. Während sich Debatten zur Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten weiterentwickeln und neue Standards entstehen, wird es (unbefriedigende) Zwischenlösungen geben. Die digitale Neugestaltung der Wissensordnungen unser Zeit bietet trotzdem reichlich Möglichkeiten, ein gerechteres Modell der Daten- und Informationsverantwortung zu entwickeln.

Banner IN_CONTEXT: Colonial Histories and Digital Collections

Projektstart: IN_CONTEXT: Colonial Histories and Digital Collections

IN_CONTEXT ist ein auf zwei Jahre angelegtes Projekt mit dem Ziel, eine Finanzierung für die Digitalisierung von Bibliotheksbeständen aus kolonialen Kontexten und für den Aufbau einer virtuellen Forschungsumgebung einzuwerben. Diese soll mittelfristig als eine zentrale Plattform zur Erforschung historischer Quellen dienen, indem sie relevante Sammlungen in Deutschland und von internationalen Partnern präsentiert und zugänglich gemacht. Das Projekt ist an der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) angesiedelt und wird von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) gefördert.

Die öffentlichen Debatten über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit gewinnen zunehmend an Dringlichkeit und reichen von Diskussionen über die Rückgabe von Museumsobjekten bis hin zur Umbenennung von Institutionen oder Straßen. Kulturerbeeinrichtungen überdenken zunehmend ihre kolonialen Verflechtungen. Im Zuge der Anerkennung ihrer Beteiligung am globalen, kolonialen Projekt werden wichtige Fragen zu den Praktiken der Gestaltung und Verbreitung von Wissen im Prozess des Sammlungsaufbaus in Bibliotheken, Archiven oder Museen aufgeworfen. Die SBB spielte vor diesem Hintergrund seit dem 17. Jahrhundert eine zentrale Rolle bei der Erwerbung von gedruckten Büchern, Manuskripten, Nachlässen, Karten und Fotografien. IN_CONTEXT identifiziert somit Bestände, die sich auf die kolonialen Verflechtungen der Bibliothek beziehen.

Mit der Verwendung des Begriffs „koloniale Kontexte“ übernimmt das Projekt eine breite Definition von Kolonialismus. Koloniale Kontexte umfassen somit all jene Bestände, die sich auf formelle und informelle Formen kolonialer Herrschaft beziehen. Dazu gehören auch Sammlungen, die koloniale oder imperiale Ideologien und Praktiken widerspiegeln, wie z. B. rassistische Vorstellungen von kultureller Überlegenheit gegenüber ethnischen Minderheiten und die Art und Weise, wie diese zur Rechtfertigung von Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verwendet wurden.

IN_CONTEXT greift somit gegenwärtige Debatten über koloniale Verflechtungen auf und trägt zu einem Prozess der institutionellen Reflexion bei, indem Praktiken des Sammlungsaufbaus hinterfragt werden, ein digitaler Zugang zu historischen Materialien geschaffen wird und in enger Zusammenarbeit mit Institutionen, internationalen Partnern und Communities of Interest eine virtuelle Forschungsumgebung konzipiert wird.

Projektziele

Identifizierung von Bibliotheksbeständen aus kolonialen Kontexten in der Staatsbibliothek zu Berlin für die Digitalisierung
IN_CONTEXT erhebt den Umfang der kolonialgeschichtlichen Quellen der SBB für die Digitalisierung. Darüber hinaus wird das Potential für zukünftige Projekte in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie mit weiteren nationalen und internationalen Partnern sondiert.

Erarbeitung eines Konzepts für die Entwicklung einer virtuellen Forschungsumgebung
IN_CONTEXT entwirft eine virtuelle Forschungsumgebung, die als Plattform für Bestände zur Geschichte des Kolonialismus dienen soll. Im Rahmen dieser webbasierten Plattform können Nutzende zukünftig kollaborativ arbeiten und Quellen und Sammlungen mit Hilfe digitaler Tools untersuchen. Der Austausch mit Expert:innen und Wissensträger:innen, die mit kolonialem Beständen in Verbindung stehen, ist für den Erfolg des Projekts entscheidend, um angemessene Datenstrukturen und Metadatenstandards zu gewährleisten. Auf diese Weise will sich das Projekt in Debatten über ethische Implikationen der Datenmodellierung, Designentwicklung und Barrierefreiheit einbringen.

Zusammenarbeit mit internationalen Partnern und Communities of Interest
IN_CONTEXT schafft durch Workshops, Austauschformate und weitere Kooperationen ein Netzwerk aus wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren aus Kulturerbeeinrichtungen, Forschungseinrichtungen und der Zivilgesellschaft. Diese Zusammenarbeit ist Voraussetzung, um Wissen über Sammlungen offen zu teilen und mit sensiblen Beständen angemessen umzugehen. Auf diese Weise werden ethische Dimensionen der Digitalisierung von Sammlungen mit Bezug zur Kolonialgeschichte reflektiert. Das Projekt zielt darauf ab, weitere Untersuchungen zu den Beständen und der kolonialen Vergangenheit Bibliothek anzuregen.

Kontaktieren Sie uns!

Wir freuen uns auf Anregungen und Gespräche über Kolonialgeschichte, Digitalisierung, Kolonialismus und die Entwicklung digitaler Infrastrukturen.

Projektleiterin: Larissa Schmid
Wissenschaftliche Mitarbeiter: Lars Müller und John Woitkowitz

Sie erreichen uns unter in_context@sbb.spk-berlin.de